Sonntag, 30. April 2023

vom nest verlassen, wenigstens für eine kurze zeit

neues jahr, schon vier monat alt, noch ein tag und auch der april ist vorbei. frühling vor dem fenster, neues semester, relativ "neue" arbeitstelle mit neuen räumen. ein neue intensive weiterbildung, die mir fast jedes wochenende verschlingt. ein frischer "neuer" 15 jähriger zu hause. und ich, so gar nicht neu, sondern eher in alten mustern. viel zu viel arbeit, viel zu wenig zeit für aktivitäten, die spaß machen. viel zu wenig energie, weil das verdammte virus, weltberühmt, mich seit herbst zu einer hustenden, schniefenden, elenden existenz gemacht hat, die von montag bis freitag arbeitet und spätestens am samstag wortwörtlich keine luft bekommen. soweit so gut. der erste beitrag für dieses jahr, längst schon überfällt. 
am donnestag früh, ich war etwas spät dran, weil mir das frühe ausstehen besonders schwer fällt, hat mich kind noch zwischen tür und angel informiert bzw daran erinnernt, dass er doch einen neuen rasierer braucht, weil er den für die reise am samstag unbedingt haben muss. warte, was? wie? ich war wach, plötzlich und in mir vermischten sich tausende gefühle. 
ja, ehemaliger "zwerg" ist 15, das habe ich mitbekommen. ich weiß und sehe, dass er täglich größer wird, alle seine mitschülerinnen von oben anschaut, größer als seine lehrerinnen ist. ich weiß, dass seine turnschuhe wie boote auschauen und unsere katzen darin locker sich ein nachtquartier machen könnten. aber das wort "rasierer" hat mich irgendwie... überrumpelt. ok, gut. männer haben haare im gesicht, das ist von der natur so vorgesehen. die reise am samstag, lange geplant und doch so plötzlich gekommen, hat mir dann den rest gegeben.
"zwerg" ist am samstag für zwei wochen ins ausland geflogen, seine erste sprachreise mit der schule, seine erste große reise völlig ohne uns. natürlich in begleitung, sogar mit seiner lieblingslehrerin (auch mit meiner), aber alleine, weit, lang. bis donnerstag morgen habe ich das irgendwie verdrängt, aber da er nun mal packen musste, tja, musste mutter auch aus ihrem traum aufwachen. mein blick ging zum mann, der meinte, wir sind dann völlig alleine und grinste. ich nicht, ich bin wortlos zur arbeit gegangen. um mir den rest zu geben, meinte dann der mann, als er einige minuten später zur bimstation nachkam, nächstes jahr sind wir dann sechs monate alleine. der wunsch, ihn auf die schienen zu stossen, war dann doch nicht stärker als die vernuft. 
tja, einige stunden später habe ich zu rotieren begonnen. erstens, weil ich am freitag den ganzen tag eine weiterbildung hatte und nicht zum einkaufen gekommen bin. und zweites... hier sich bitte eine alte und ausgelutschte phrase vorstellen, aber ja, das ging mir jetzt doch zu schnell.
die letzten jahre sind an uns allen vorbeigerannt, buchstäblich. in meinem gefühl hat die pandemie mindestens ein jahr für uns alle verschluckt und ich für meinen teil weiß oft nicht, welches jahr wir haben bzw wundere mich, dass es schon 2023 ist. wo ist 2020 hin, 2021 war doch noch nicht? und in dieser zeit wurde aus zwerg ein riese. er ging auch in dieser zeit von dem schon beschriebenen launischen individuum zu einem... sagen wir es mal sanften riesen. er ist ruhiger, ausgeglichener, bodenständiger geworden, die launen haben ihn nur noch selten im griff. hie und da etwas hysterie, vor allem, wenn er für die schule was machen muss und es doch in letzter sekunde macht, aber sonst kann man überraschenderweise wieder mit ihm reden. in einem normalen ton. bei ihm und bei mir. vielmehr, ich genieße seine gesellschaft unverschämt. er ist der cooles gesprächspartner, der entspannteste reisepartner, schaut sich mit mir jeden film, jede oder, jedes stück im theater an, er war letztens sogar in einer balettaufführung, die war "nicht ganz meins" war, aber er hat sie das stück interessiert angeschaut. ich halte in solchen momenten inne und weiß, dass das ab morgen anders sein könnte, aber ich genieße den moment unverschämt. 
nun macht er seit gestern die stadt der liebe unsicher, ab dienstag fahren sie dann in eine andere stadt, wo sie auch zur schule gehen werden. noch bin ich cool, aber schauen wir, wie das in einigen tagen sein wird. die fotos, die uns die lehrerinnen schicken, schauen nach einem riesenspaß aus und ich freue mich für ihn...und denke dabei auch stark an mich und die zeit, als ich flügge geworden bin. 
ich war genau 15, als meine mutter uns in ein anderes land, sagen wir es nett, bracht, sagen wir es weniger nett, verschleppte und ab da began mein pendeln zwischen meinen eltern, zwischen zwei ländern. die erinnerungen daran ist noch lebendig, als wären nicht 35 jahre vergangen und ich weiß noch, wie groß, erwachsen, reif ich mich gefühlt habe, ewig lang allein mit dem zug fahren zu dürfen. später, als das eine land eine neue politische form bekommen hat, musste ich sogar auf dem weg umsteigen, auch das war für mich "super leicht, schaffe ich doch mit links". ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, ich wäre nicht jedes mal super aufgeregt worden, aber die selbständigkeit, die mir diese reisen gegeben haben, das selbstbewußtsein, das sie geformt haben, ist bis heute hier. nie habe ich nur einen gedanken daran verschwendet, wie sich meine eltern fühlen, ob sie angst um mich hatten (keine handys, keine kommunikation für 12 und mehr stunden, je nach weg), ich wollte auf den weg, ich wollte reisen, ich wollte meinen vater sehen, ich wollte "frei" sein, die welt war groß und ich war neugierig. an dieses gefühl denke ich in den letzten monaten oft, jahrzehnte später fühle ich, wie ein stück der jungen frau, die mit ihrem koffer alleine quer durch europa gereist ist, sich gerade regt. back to the roots so zu sagen.
ich habe nie aufgehört zu reisen, auch als familie waren wir schon quer durch die welt unterwegs, intensiv, viel, von anfang an. dennoch haben die letzten jahre, nicht nur wegen der pandemie, einiges an stillstand gebracht. natürlich hat corona uns alle eingebremst, wie gesagt, die zeit ist geradezu stehen geblieben. dennoch fand ich es in den letzten monaten, als würde der stillstand mehr sein als nur eine nachwehe der pandemie. irgendwas... hat vor allem mich eingebremst, irgendwas hält mich zurück, obwohl ich mich doch nur durch bewegung definiere. und diese muss wieder alltag werden.
bei aller sentimentalität über das viel zu schnelle wachsen des pubertiers des hauses, ich bin froh, dass er die bewegung hat, dass er unterwegs sein kann, dass er die welt kennenlernen darf. diese erfahrungen sind gold wert, unbezahlbar, wichtig. mit seinen freundinnen dies tun zu können, umso beeindruckender. nur habe ich das gefühl, zurück geblieben zu sein und da muss ich für mich ansetzten. denn dem kind wachsen flügel, was gut und natürlich ist, aber ich muss meine abstauben und neu ausbreiten. 
wenn er nächstes jahr ein semester in frankreich verbringt, nehme ich das als anlass auch für mich etwas spannendes, neues zu finden, was mich aus dem stillstand bringt. verlassen eltern auch das nest, wird diese metapher auch so verwendet? keine ahnung, aber ich tue es jetzt einfach, für uns beide. es darf, nein, es muss gerade so sein. in welche richtung wer fliegt, wird die zeit zeigen, das nest wird da sein, wenn wir wieder zurück wollen.